Da lese ich den Tweet einer Erziehungswissenschaftlerin: «Die Attraktivität des Gymnasiums hat auch diesen Grund: eine Lehrstelle suchen zu müssen ist herausfordernder als eine Gymi-Prüfung.»

Will heissen, dass die Jungen nicht motiviert sind, eine Lehrstelle zu suchen, sondern lieber büffeln, bis sie umfallen, um mit der Gymi-Aufnahmeprüfung, die sie dann nur mit Stützunterricht bestehen, den Wunsch und Anspruch der Eltern zu erfüllen. So sehe ich das. Von einer etwas anderen Seite.

Denn das grosse Problem, warum immer mehr zu einem Studium tendieren und geschoben werden, ist unsere verkorkste Gesellschaft. Hochgradiges Zweiklassensystem driftet immer mehr ab ins Dreiklassensystem. Du bist doch ganz einfach niemand und weniger wert, wenn du keine Titel mit Bachelor oder Master, wie auch immer, vorweisen kannst. Ein Abschluss einer Hochschule ist heute das Mass aller Dinge, um in unserer Gesellschaft ernst genommen und geachtet zu werden. Auch als Kind für die Eltern. Und ein Muss, um in gewissen Firmen überhaupt die Chance zu haben, einen Job zu erhalten. Ein Muss, um überhaupt ins Land gelassen zu werden (Visagesuche aus Dritt-Staaten-Ländern).

Und der Anglizismus mit den snobistisch angehauchten, überkandidelten Berufsbezeichnungen trägt das Seine dazu bei: Director of Human Resources, Key Account Manager, Senior Embedded Linux Expert, Freelance Editor Compliance Officer, Head of Campaign Management, Assistant to CEO & CFO, Senior Specialist SEA, First Level Supporter SEO, Head of APAC Controlling & Supply Finance, Facility Manager und wie sie alle heissen. Bald gibt es die Manager of Babysitting, Animal Rescue First Level Support, Garden Plant Manager of Hydrocultures, Manager of Mailboxes Emptying, Assistant of Host Toilet Cleaner FO usw. Und was ist ein Billing Manager? Hauptsache, man ist ein Global Player und Assistant to Network User!

Und in dieser überkandidelten Welt werden Handwerker wie Hanswürstchen belächelt. Was sind schon Berufsbezeichnungen wie Plättlileger gegen Manager of Floor Plates, Maurer gegen Head of Bricklayer Management, Maler gegen Master of Science of Painting, Bäcker gegen Head of the Breadmaker CFO, Polsterer gegen Head of the Upholstery Processing, Automechaniker gegen Senior First Level Car Mechanic? Vorbei sind die Zeiten, als Handwerk noch goldenen Boden hatte. Der Bauer der Reichste im Dorf war und von allen angesehen. Handwerker braucht man heutzutage höchstens notfallmässig. Dann, wenn’s mal richtig zur Sache geht, der Abfluss verstopft, die Toilette überquillt oder das Dach undicht ist. Oder er dir die feinen Brötchen bäckt und das Auto repariert. Ansonsten: Wer will schon einen einfachen Handwerker zum Freund? Wer lädt ihn als Erstes zur Party mit seinen studierten Freunden ein? Was? Man will sich doch nicht blamieren. Aber HALLO!

Doch dann, wenn er sein eigenes Geschäft hat, dann wird er plötzlich interessant. Geschäftsinhaber zu sein, hat einen enormen Stellenwert. Egal, ob der Inhaber jeweils Ende des Monats darum kämpft, seinen Mitarbeitern die Löhne bezahlen zu können. Oder er über Leichen geht und seine Mitarbeiter mies behandelt. Das sieht man ja nicht. Seine Fassade ist das, was zählt. Und die Fassade seines Geschäfts. Man sieht nur seine Posts auf den sozialen Plattformen, wenn er mal wieder Bilder in super lässiger Pose auf einer durch die Karibik schäppernden Luxus-Segeljacht mit all seinen (neidischen) Followern teilt. Oder seinen neuen Ferrari bei Sonnenuntergang auf einer Strandpromenade in Nizza ablichtet. Und dann noch Bilder von seiner dritten Mario-Botta-Villa in Dubai veröffentlicht, am Pool in der Ich-bin-der-Superhengst-Pose mit personalisierter Ray-Ban-Sonnenbrille und einem jungen Häschen im Arm.

Meine Villa, mein Sportwagen, meine Segeljacht!

Und die Scheidungspapiere der Ehefrau liegen schon beim Anwalt.

Die Jacht war gemietet, der Ferrari für zehn Minuten geleast, die Villa stand zu vermieten, die Sonnenbrille lag herrenlos in einem Strassencafé auf dem Tisch, aber das Häschen war echt. Er hat es aus der Zoohandlung befreit.


Gefragt bei den Jungen und Schönen sind die Söhne und Töchter von schwerreichen Konzerninhabern, Erben, mit deren Freundschaft man sich brüsten kann. Und denen, egal wie doof, unverschämt und blamabel sie sich in der Öffentlichkeit verhalten, die schmachtende Möchte-gern-Seitenblickgesellschaft zu Füssen liegt. – Oder das It-Girl mit den heissesten Höschen der Welt, das sich damit brüstet, 2 Millionen Follower zu haben. Einfach so! Nur mit ein bisschen (viel) nackter Haut und herausquellenden Brüsten, gegeben von Mutter Implantatia. Erfolg muss man haben: Um jeden Preis. Egal wie. Und ohne Titel. Hauptsache viel Nacktes und Sonnenbrille. Und Abertausenden Followern vom asischen Schwarzmarkt.

Aber das alles ist nicht gedacht für Normalos.

Diese stehen täglich um 5 Uhr auf, quälen sich zwei Stunden durch den Morgenstau, reissen sich im Geschäft den Arsch auf, bis sie abends todmüde ins Bett sinken. Und das für einen verhältnismässig lächerlich kleinen Lohn. Womit wir wieder bei der Dreiklassengesellschaft wären. Denn: Hätte man studiert, müsste man sich zwar auch den Arsch aufreissen, aber für einen weit höheren Lohn. Und Status in der Gesellschaft.

Und zuletzt noch das: Komme ich heute zur Arbeit und lasse den ersten Kaffee aus dem Automaten. Normalerweise lächelt mich von der Maschine immer eine Kaffee schlürfende, braunäugige Schönheit an. Doch oh Schreck! Da klebt jetzt ein Zettel drüber, und es steht nun schwarz auf weiss: NEU Kaffeerahm für Mitarbeiter aus der Kaffeerahmflasche
(Portionen sind nur für Kunden)!  🙁

 

Ich bin in die Zweite-Klasse-Kaffeetrinker-Gesellschaft abgerutscht!
Oder ist ganz einfach der Kunde König?

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